Mehr vorbeugen, mehr behandeln

Studie zur Umsetzung der „BIS 2030“-Strategie – Analyse und Maßnahmen­empfeh­lungen

Diagramm Prävalenzentwicklung HIV und HCV bis 2030

Die Bundesregierung hat im Jahr 2016 die Strategie „BIS 2030“ verabschiedet mit dem Ziel, HIV, Hepatitis B und C sowie andere sexuell übertragbare Infektionskrankheiten einzudämmen. Damit knüpft sie ausdrücklich an die Agenda 2030 der Vereinten Nationen an, die es sich unter anderem zum Ziel gemacht hat, bis 2030 die Ausbreitung von HIV und Hepatitis C nachhaltig zu bekämpfen und die Behandlung der Menschen mit HIV und HCV zu verbessern. Die Strategie beschreibt dazu eine Vielzahl von Handlungsfeldern, Zielgruppen und Maßnahmen.

Bis 2030 verbleiben nur noch wenige Jahre

Ziel dieses Studienberichts ist es daher, fünf Jahre nach Verabschiedung der Strategie eine Standortbestimmung durchzuführen und die Maßnahmen zu identifizieren, deren Umsetzung aufgrund ihres besonderen Beitrags zur Erreichung der oben genannten Ziele besonders dringlich erscheint.

Die HIV-Prävalenz ist aufgrund der jährlichen Neuinfektionen weiter angestiegen. Die HCV-Prävalenz ist aufgrund der seit 2014 deutlich verbesserten Heilungsmöglichkeiten mit neuen Medikamenten höchstwahrscheinlich rückläufig. Sowohl die Aussagen zur Prävalenz als auch zur Inzidenz und deren Entwicklung sind jedoch mit einem erheblichen Maß an Unsicherheit behaftet, da verlässliche Daten nur sehr eingeschränkt zur Verfügung stehen.

Insgesamt ist festzustellen, dass im Hinblick auf HIV die beiden behandlungsbezogenen Ziele schon heute erreicht sind und das testbezogene Ziel nahezu erreicht wird. Defizite bestehen noch im Hinblick auf die Senkung der Anzahl der Neuinfektionen. Jedoch ist diese zumindest in der Hauptrisikogruppe der Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), schon länger rückläufig.

 

Vier von fünf Zielen zur Eindämmung von HCV werden deutlich verfehlt

Bezüglich der Eindämmung der HCV-Infektionen fällt positiv auf, dass die Zahl der HCV-bedingten Todesfälle allem Anschein nach in den letzten Jahren deutlich gesunken ist. Jedoch werden die vier übrigen der fünf betrachteten Ziele deutlich verfehlt. Bei diesen Zielen handelt es sich um die Verringerung von Neuinfektionen, der Steigerung von Diagnose und Behandlung von betroffenen Menschen sowie der Abgabe von sterilen Spritzen an Menschen, die intravenös Drogen nutzen. Hier ist gegenwärtig nicht ersichtlich, dass die für 2030 gesetzten Ziele ohne außerordentliche Anstrengungen erreicht werden können.

Aktueller Stand in Deutschland im Hinblick auf die UNAIDS- und WHO-Ziele

Ziel Stand der Zielerreichung
HIV (Basis: 2010)
95 % (2030) bzw. 90 % (2020) der mit HIV infizierten Menschen sollen wissen, dass sie infiziert sind. 88 %
Davon sollen 95 % (2030) bzw. 90 % (2020) eine antiretrovirale Behandlung erhalten. 96 %
Von Therapierten soll bei wiederum 95 % (2030) bzw. 90 % (2020) die Viruslast erfolgreich unterdrückt werden. 96 %
Die Zahl der weltweiten Neuinfektionen bei Erwachsenen soll bis 2030 auf jährlich 200.000 (-90 %) bzw. auf 500.000 bis 2020 (-76 %) gesenkt werden (Interpretation für Deutschland:  -90 % und -76 %). in etwa gleich*
HCV (Basis: 2015)
Die Zahl der Neuinfektionen soll um 30 % bis zum Jahr 2020 und um 90 % bis zum Jahr 2030 fallen. +22 %
Die Zahl der Todesfälle durch virale Hepatitis soll bis 2020 um 10 % und bis 2030 um 65 % zurückgehen. -54 %
90 % aller Menschen mit HCV sollen diagnostiziert werden. 37 %
80 % aller Menschen mit HCV sollen eine Therapie erhalten. 14–47 %
Abgabe von sterilen Spritzen bzw. Nadeln an Menschen, die intravenös applizierte Drogen nutzen wohl nur stark eingeschränkt**

Quelle:
IGES auf Basis der Angaben im Text

Anmerkung:
* Ein konkreter Wert für 2010 wurde vom RKI nicht ausgewiesen; die Beurteilung erfolgt auf Grundlage einer Grafik
** konkrete Daten liegen nur für wenige Regionen Deutschlands vor; ein flächendeckendes und ausreichendes Angebot existiert jedoch nicht

5-Punkte-Plan

Zur Erreichung der Ziele der „BIS 2030-Strategie“ wird ein 5-Punkte-Plan vorgeschlagen, der folgende Handlungsfelder adressiert:

1. Niedrigschwelliges HIV- und HCV-Screening erweitern

Nicht zuletzt, weil Personen mit bestehender, aber noch nicht diagnostizierter HIV- bzw. HCV-Infektion diese unwissentlich weitergeben können, ist es notwendig, durch niedrigschwellige Testangebote so viele unerkannte Infektionen aufzudecken wie möglich. Je nach Zielgruppe sind dazu unterschiedliche Ansätze sinnvoll.

  • Screening in der Allgemeinbevölkerung unter Nutzung der neuen Möglichkeiten im Rahmen der Gesundheitsuntersuchung
  • MSM noch häufiger testen
  • Niederschwellige Test-Angebote für intravenös-Drogengebrauchende unter Nutzung der neuen Möglichkeiten der Testung durch nicht ärztliches Personal
  • Test-Angebote in Haftanstalten verstärken, sowohl bei Aufnahme als auch während des Haftverlaufs
  • Aufbau von erweiterten Strukturen, Testmöglichkeiten und Linkage to Care, um positiv Getestete einer Therapie zuzuführen

 

2. Prävention ausweiten

Wie bei allen anderen Infektionskrankheiten ist die Prävention auch in Bezug auf HIV und HCV das wichtigste Mittel zur Eindämmung. Mit geeigneten Maßnahmen ist mit fast 100-prozentiger Sicherheit ein Schutz vor diesen Infektionen möglich.

  • Entstigmatisierung durch Information über HIV und HCV
  • Bei MSM das Risikobewusstsein für HIV erhalten und für HCV stärken
  • Therapie zur Prävention nutzen: Behandelte können andere nicht mehr anstecken
  • Linkage to Care ausbauen, um Risikogruppen besser zu erreichen und vermehrt zu behandeln

 

3. Drogengebrauch sicherer machen

Intravenöser Drogengebrauch erhöht das Risiko für die Ansteckung mit HIV und in besonderem Maße für HCV erheblich. Daher muss bei intravenös-Drogengebrauchenden das Schutzverhalten durch verschiedene Maßnahmen verbessert werden:

  • Zielgruppengerechtere Ausrichtung von Informationskampagnen für Drogennutzer
  • Weitere Schulung von Suchthilfemitarbeitern zu Präventions-, Test- und Behandlungsmöglichkeiten im Hinblick auf HCV-Infektionen
  • Stärkere Einbeziehung der Ärzteschaft in die Prävention bei Drogennutzenden
  • Ausweitung von Substitutionsangeboten für intravenös Drogennutzende
  • Etablierung von flächendeckenden und bedarfsgerechten Angeboten für einen hygienischen Drogenkonsum

 

4. Mikroelimination von HCV- und HIV-Infektionen in Gefängnissen

Entsprechend der „BIS 2030-Strategie“ gibt es innerhalb des Justizvollzugs Verbesserungsbedarf bei der Prävention, Diagnostik und Behandlung von HIV- und HCV-Infektionen, speziell bei intravenös-Drogengebrauchenden. Für die Verbesserung der Situation in Gefängnissen sind folgende Maßnahmen erforderlich:

  • Erstellung und Verabschiedung eines Gesamtkonzepts (auf Landes- und Einrichtungsebene) zur Prävention, Diagnose und Behandlung von mit HIV/HCV-Infizierten intravenös-Drogengebrauchenden in Haftanstalten
  • Schulung des Personals von Haftanstalten zum Umgang mit (HIV/HCV-Infizierten) intravenös-Drogengebrauchenden
  • Erweiterung des Substitutionsangebots für intravenös-Drogengebrauchenden
  • Ermöglichung eines hygienischen intravenös-Drogenkonsums
  • Ausbau insbesondere der Therapiemöglichkeiten für Menschen mit HCV
  • Verbesserung des Übergangsmanagements bei Haftentlassung (Kontakte zu Suchtberatungsstellen, ärztlicher Versorgung etc.)

 

5. Datenlage verbessern, um Kontrolle zu sichern

Valide Daten zur Zahl der jährlich neu bzw. insgesamt infizierten Menschen sowie zu den damit verbundenen Endpunkten sind unverzichtbare Elemente von Programmen zur Eindämmung bzw. Eradikation von Infektionen. Die Datenlage muss weiter verbessert werden.

 

Den vollständigen Studienreport finden Sie hier.
Dieser wurde von der Gilead Sciences GmbH finanziert; Inhalt und Redaktion lagen in der unabhängigen Verantwortung der IGES Institut GmbH.

Weitere Themen

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Referenzen

IGES Institut (2021): Mehr vorbeugen, mehr behandeln. Studie zur Umsetzung der „BIS-2030“-Strategie.

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